Rainer Hackmann. Erstmals veröffentlicht in blog.de 2008-07-27 – 18:20:06
Ein Usenet Newsgroup Hinweis auf einen Spiegel-Online Artikel:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/
mensch/0,1518,druck-562025,00.html
Passend dazu die Geschichte der Lobotomie. Prof. Moniz hat 1949 dafür sogar den Nobelpreis für Medizin bekommen, der ihm bis heute nicht aberkannt wurde.
Diese Behandlung wird heute durch stereotaktische Operationen ersetzt, z. B. die Thalamotomie und die Zingulotomie. Insbesondere auch durch die Behandlung mit Psychopharmaka.
FRÜHE NEUROCHIRURGIE
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
Ob Depressionen, Angstzustände oder Alkoholismus – der Neurologe Walter Freeman glaubte um 1950, psychische Erkrankungen durch grobe Schnitte ins Gehirn heilen zu können. Die Methoden des „Hirnschneiders“ waren rabiat, die Folgen für die Patienten fatal.
Der zwölfjährige Howard Dully liegt festgeschnallt auf einem Krankenbett. Vier Elektroschocks hat ihm der Neurologe Walter Freeman versetzt. Nach dem ersten Stromstoß aber kam der Junge schnell wieder zu Bewusstsein. Daraufhin wurde sein Gehirn drei weitere Male unter Spannung gesetzt – mit Erfolg: Howard ist ins Koma gefallen.
Die Schnitte ins Hirn sollen seine Persönlichkeit verändern.
Freeman lässt noch ein Foto machen, dann zieht er beide Stahlnadeln heraus. Nicht einmal zehn Minuten dauert die Operation im Doctors General Hospital in San Jose, Kalifornien. Zehn Minuten, die Howard Dullys Leben beinahe zerstören.
Zwei Monate zuvor, im Oktober 1960, ist Howards Stiefmutter in Freemans Büro erschienen. Etwas stimme nicht mit dem Jungen. Er sei aufsässig, schneide boshafte Grimassen, benehme sich schlecht bei Tisch. Kleinere Diebstähle habe er schon begangen, etwa Kleingeld aus einem Zeitungskasten geklaut.
Sechs Psychiater hat die Stiefmutter bereits aufgesucht. Alle haben sie fortgeschickt mit der Diagnose, Howard sei völlig normal. Doch das ist nicht die Antwort, die seine Stiefmutter hören will.
Freeman will den Jungen heilen – durch Lobotomie
Walter Freeman unterhält sich mit dem Jungen. Howard mag den Psychiater sofort. Der kultivierte, elegante, freundliche Mann hat warme Augen und eine sanfte Stimme. Und er kann zuhören – anders als Howards Eltern. Zu Hause wird der Junge verprügelt, wenn er sich auf dem Heimweg von der Schule verspätet oder unerlaubt eine Banane vom Küchentisch nimmt. Oft ist sein Körper von Blutergüssen übersät. Dabei hat Howard gute Noten und ist ein ausgezeichneter Schachspieler. Aber seine Stiefmutter will ihn loswerden.
Nach mehreren Gesprächen steht Freemans Diagnose fest: Der Junge leide an Schizophrenie. Doch er könne geheilt werden – durch eine „Lobotomie“, eine Operation an den Stirnlappen des Gehirns, die sein trotziges Wesen besänftigen werde. Die Eltern stimmen zu.
Howard ahnt nicht, was mit ihm geschehen soll, als er 16 Tage später ins Krankenhaus kommt. Er weiß nicht, dass Walter Freeman schon Tausende „lobotomisiert“ hat. Dass der 65-Jährige vorhat, die psychiatrische Medizin zu erneuern – mit einer Operation, die manche für einen Meilenstein der Wissenschaft halten und die andere an ein mittelalterliches Folterritual gemahnt.
Walter Freeman, geboren am 14. November 1895 in Philadelphia, stammt aus einer wohlhabenden Familie. Er studiert Sprachen und Geschichte in Yale, eher ziellos. Dann jedoch wendet er sich der Medizin zu. Freeman faszinieren plötzlich Nervenkrankheiten und die Physiologie des menschlichen Gehirns.
Es sind die Jahre, in denen Sigmund Freuds Psychoanalyse in den USA populär wird. Doch die neue Theorie hat starke Widersacher. Sie glauben, dass Erkrankungen der Psyche rein organische Ursachen haben: Fehlfunktionen des Nervenapparats, die durch Gespräche nicht zu kurieren sind. Auch Freeman zählt zu den Anti-Freudianern.
Tatsächlich versagt Freuds Analyse bei schweren Psychosen zumeist, viele Patienten werden in den Heilanstalten nur verwahrt. Deshalb wagen Nervenärzte in Europa und den USA immer rabiatere Kuren. Sie lassen Elektrizität durch die Körper Depressiver laufen, traktieren Schizophrene mit Eisbädern und Duschen, injizieren ihnen Malaria-Erreger, um ein „heilendes“ Fieber zu erzeugen, oder giftige Zyanide, um Gehirn und Nervensystem zu stimulieren.
Nebenwirkungen nimmt Freeman in Kauf
Auch Walter Freeman, der ab 1924 in Washington als Neurologe und Psychiater arbeitet, wendet die Schocktherapien an. Er spritzt Substanzen wie Insulin und Metrazol (ein Analeptikum, dass starke Krampfanfälle auslöst, ähnlich wie bei der Elektroschocktherapie), selbst wenn sich die Patienten danach in so starken Krämpfen winden, dass sie manchmal Knochenbrüche erleiden.
Die Nebenwirkungen nimmt Freeman in Kauf. Denn dass die Psychiatrien in den USA so überfüllt sind, hält er für eine Verschwendung menschlicher Ressourcen. Er will aus Kranken nützliche Mitglieder der Gesellschaft machen – gleich mit welchen Mitteln.
Im Frühjahr 1936 liest Freeman in einem medizinischen Journal von einer radikal neuen Methode: In Portugal operiert der Neurologe Egas Moniz psychisch Kranke direkt am Gehirn, um sie zu kurieren. Er bohrt ihnen zwei Löcher ins Schädeldach und dringt mit einer Kanüle zu den Stirnlappen vor.
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
2. Teil: Empörung über die neue „Psychochirurgie“
Bis dahin ist wenig bekannt über die Funktion der einzelnen Hirnareale. Man weiß aber, dass sich in den Stirnlappen unzählige Nervenfasern verzweigen. Moniz glaubt, dass diese Verbindungswege bei Gemütskranken gleichsam erstarrt sind, dass sich in ihnen fixe Ideen und Wahnvorstellungen verfestigt haben. Man müsse die Nervenbahnen zerstören und das Gehirn zwingen, neue, gesündere Verbindungen zu knüpfen.
Anfangs spritzt Moniz Alkohol in die Stirnlappenregion, um die Nervenfasern abzutöten. Dann vollführt er mit einer Stahlschlinge oder kleinen Schneideklinge kreisrunde Schnitte, um Nervengewebe zu durchtrennen: ein höchst ungenauer und zerstörerischer Eingriff.
Viele Patienten leiden danach an Fieber, Gesichtsstarre, wirken desorientiert und apathisch – das alles, so glaubt Moniz, seien nur vorübergehende Symptome.
Nach 20 Operationen verkündet der Portugiese in einem Aufsatz, 70 Prozent seiner Patienten seien völlig kuriert oder in besserer Verfassung als zuvor und sie hätten weder an Gedächtniskraft noch Intelligenz eingebüßt. Besonders gut wirkten die Schnitte ins Gehirn gegen Depressionen.
Doch die Erhebung ist viel zu hastig publiziert, die langfristigen Folgen sind vollkommen ungewiss. Viele Psychiater reagieren empört auf die neue „Psychochirurgie“. Zumal Moniz für seine Theorien jeden Beweis schuldig bleibt.
Walter Freeman aber ist beeindruckt von den Ergebnissen des Portugiesen – ob dessen Theorie tatsächlich stimmt, ist ihm gleichgültig. Der Mann aus Philadelphia träumt davon, ein Pionier der Psychochirurgie in den USA zu werden. Kurzerhand bestellt er einige der Instrumente, mit denen Moniz operiert. Weil er keine chirurgische Ausbildung hat, bittet Freeman einen Neurochirurgen um Hilfe. Gemeinsam üben sie an Leichen die neue Operationsmethode.
Die Fehlschläge bremsen Freemans Eifer nicht
Im September 1936 fühlen sie sich für den Eingriff gerüstet. Ihre erste Patientin ist eine 63-jährige Hausfrau aus Kansas, die an Schlaflosigkeit, Ängsten und Depressionen leidet. Sie trepanieren in den Schädel zwei Löcher und setzen an zwölf Stellen Schnitte in die Stirnlappen.
Mehrere Tage danach stottert die Patientin und ist unfähig, leserlich zu schreiben. Freeman und sein Kollege gratulieren sich zu einem „brillanten“ Ergebnis: Offenbar sind alle Ängste verschwunden – und sie kann bald wieder ihren eigenen Haushalt führen.
Freeman ist wie euphorisiert. Auch eine zweite Patientin scheint von ihren Depressionen und Halluzinationen befreit zu sein: Die Buchhalterin kann zwei Monate nach der Operation sogar ihre Arbeit wieder aufnehmen.
Aber es gibt auch Rückschläge: Die vierte Patientin leidet nach sechs Wochen erneut an ihren alten Angstzuständen. Und beim fünften Eingriff verletzen die beiden Ärzte Blutgefäße im Gehirn des Operierten. Die Folgen: epileptische Anfälle und Blaseninkontinenz.
Die Fehlschläge bremsen Freemans Eifer nicht. Nach nur sechs Versuchen lädt er einen Reporter ein, Zeuge einer „Lobotomie“ zu sein, wie er die Schnitte in die Stirnlappen (engl. = frontal lobes) nun nennt. In dem Artikel vom November 1936 wird die Operation als eine der wohl „größten chirurgischen Erfindungen“ der Gegenwart gefeiert.
Nur wenige Wochen später der erste Todesfall: Eine 60-Jährige stirbt nach der Operation an einer Gehirnblutung. Der Kunstfehler hat keinerlei Konsequenzen für die beiden Ärzte.
Die meisten Fachkollegen bleiben skeptisch
Dabei erleiden auch andere ihrer Patienten Hirnschäden, müssen zum Teil gefüttert oder lange gepflegt werden. Rosemary Kennedy, die Schwester des späteren US-Präsidenten, hat nach ihrer Lobotomie 1941 den Verstand eines Kindes und verbringt 63 Jahre in geschlossenen Anstalten.
Selbst Freeman hält den Eingriff zu dieser Zeit nach wie vor für ein letztes, da besonders riskantes Mittel. Zugleich aber propagiert er die Lobotomie auf Kongressen im ganzen Land. Die meisten Fachkollegen bleiben skeptisch. Sie halten die Operation für zu zerstörerisch, manche auch für kriminell.
Nur einige andere Neurologen erproben die neue Psychochirurgie. Weniger wohl, als sich Freeman erhofft. Zwischen 1940 und 1944 verzeichnen die Krankenakten in den USA 684 Lobotomien. Allein Walter Freeman hat bis 1943 mehr als 200 Patienten operiert, die Erfolgsquote gibt er mit 63 Prozent an.
Sein missionarischer Eifer ist damit nicht gestillt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die 180 staatlichen Psychiatrien des Landes überfüllt. Hunderttausende, schätzt Freeman, warten in den Anstalten auf Behandlung. Möglichst vielen will er mit einer Lobotomie helfen. Sie soll bald nicht mehr das allerletzte Mittel sein, sondern der erste Schritt zu einer Therapie. Dazu aber muss er den aufwendigen Eingriff vereinfachen.
Freeman erinnert sich, dass es einen leichteren Zugang zum Gehirn gibt, als Löcher in die Schädeldecke zu bohren: durch die Augenhöhle (Orbita), die von den Stirnlappen nur durch eine dünne Knochenwand getrennt ist.
Aber noch fehlt ihm ein geeignetes Werkzeug, die Instrumente des Portugiesen brechen zu leicht. Zu Hause wird er fündig: Ein langer stählerner Pickel, mit dem man Cocktail-Eis zerstoßen kann, scheint genau richtig.
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
3. Teil: Freemans Vision: Psychiater überall im Land sollen Eispickel-Lobotomie praktizieren
Im Januar 1946 erprobt Freeman erstmals die „transorbitale“ Lobotomie. Einer 29-jährigen Frau, die unter manischen Schüben und Depressionen leidet, schiebt er den Eispickel am Augapfel vorbei ins Stirnhirn. Dann schwingt er das Instrument hin und her, um Nervenbahnen zu durchtrennen. Die Patientin scheint schlagartig geheilt; zwar wirkt sie in ihrem ganzen Wesen auffallend gedämpft, kann aber wieder als Krankenschwester arbeiten.
Diesmal hat Freeman nicht in einem Krankenhaus operiert, sondern in seinem Büro – das spart Zeit und Geld. Auch die Betäubungsmethode ist unkonventionell: Freeman versetzt seine Patienten durch Elektroschocks in ein kurzes Koma. Nach dem Aufwachen schickt er sie im Taxi nach Hause. Er operiert ohne sterile Handschuhe, ohne Gesichtsmaske und Arztkittel, alles soll schnell gehen.
Die transorbitale Methode ist lebensgefährlich
Freemans Vision: Künftig sollen Psychiater überall im Land die Eispickel-Lobotomie praktizieren. Die transorbitale Methode dauert ja nur etwa sieben Minuten.
Doch sie ist lebensgefährlich, jederzeit können Blutgefäße im Kopf verletzt werden, kann sich Hirngewebe infizieren. Entsetzt wendet sich der Neurochirurg, mit dem Freeman bis dahin operierte, von ihm ab. Der aber lässt sich nach dem Modell des Eispickels neue Spezialwerkzeuge anfertigen, aus hartem Stahl und mit scharfer Klinge.
enn inzwischen öffnen ihm immer mehr Psychiatrien im Land ihre Tore. Das Personal ist mit den Patienten oft überfordert – und Freemans Versprechungen klingen verlockend. Tatsächlich können viele nach seiner Eispickel-Lobotomie entlassen werden: Weil die Schnitte offenbar alle Emotionen kappen, aus Psychotikern friedfertig-apathische Wesen machen.
Der Operateur hofft, in die Geschichte der Medizin einzugehen – als ein Revolutionär, der alte Menschheitsübel wie Depression und Hysterie ausmerzt. Freeman macht sich möglicherweise sogar Hoffnungen auf den Medizin-Nobelpreis; den jedoch bekommt 1949 Egas Moniz zugesprochen, der Erfinder der herkömmlichen Lobotomie.
Die Ehrung ist wie ein Gütesiegel; sie lässt viele Gegner verstummen. Inzwischen praktizieren Ärzte in vielen Ländern den Eingriff. Wurden bis dahin weltweit etwa 5000 Lobotomien vorgenommen, so sind es in den ersten vier Jahren nach der Preisvergabe allein in den USA 20.000. Ein Drittel davon nach Freemans transorbitaler Methode.
Er operiert nun überall. Das Chirurgenbesteck passt in seine Jackentasche; er hat ein tragbares Elektroschock-Gerät dabei, ein Hämmerchen sowie einen Fotoapparat – mehr benötigt er nicht.
Allein im Sommer 1951 legt er 11.000 Meilen zurück, operiert wie am Fließband. Im Jahr darauf behandelt er in West Virginia 228 Patienten in zwölf Tagen. Nach der Massen-Lobotomie – vier Menschen sterben – können 81 Patienten die Anstalten verlassen; der Bundesstaat spart Zehntausende Dollar an Unterbringungskosten.
Freeman genießt die großen Auftritte. Einmal operiert er vor einem Auditorium von 50 Ärzten und Reportern. Ein anderes Mal sogar mit gebrochenem Arm. Und er ist fahrlässig. Ein Patient stirbt, weil das Lobotomie-Messer abrutscht, als Freeman wie üblich während der Operation ein Foto macht.
Freeman wird zur Berühmtheit
Trotz solcher Pannen erscheinen in populären Magazinen Artikel über den Hirnschneider. Er ist zu Beginn der 1950er Jahre eine Berühmtheit, muss sogar Autogrammkarten verschicken; Anrufer erbitten eine Lobotomie – für sich selbst oder für Verwandte.
Doch dann wird er von einer neuen Erfindung gestoppt: 1954 kommt Thorazine auf den Markt, das erste Neuroleptikum. Eine „chemische Lobotomie“, wie die Herstellerfirma wirbt. Das Medikament unterdrückt Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Das Anstaltspersonal kann damit tobende und schreiende Patienten ruhigstellen.
Schon im ersten Jahr wird das Wundermittel an zwei Millionen Menschen erprobt. Der Effekt ist erstaunlich: Viele Patienten sind so gedämpft, dass man sie nach Hause entlassen kann. Die Zahl der Psychiatrie-Insassen beginnt zu sinken.
Thorazine ist weitaus ungefährlicher als Freemans Psychochirurgie. Die große Zeit des Lobotomisten ist vorbei.
Walter Freeman zieht 1954 nach Los Altos, Kalifornien. Nur ein Krankenhaus in einem Außenbezirk dort erlaubt ihm noch, Lobotomien durchzuführen.
Los Altos ist die Stadt, in der Howard Dully aufwächst. Hier hat sich noch nicht herumgesprochen, dass die Eispickel-Methode umstritten ist. Jemand muss sie Howards Stiefmutter empfohlen haben.
Am 16. Dezember 1960, um 13.30 Uhr, erledigt Freeman den raschen Eingriff.
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
4. Teil: Howard ist abgestumpft, interesselos, wie betäubt – er ist ein anderer Mensch geworden
Am Morgen danach wacht Howard Dully desorientiert auf, wie in einen Nebel gehüllt. Sein Kopf schmerzt, und die Augen sind von Blutergüssen schwarz umrandet (Freeman rät den Operierten stets, eine Sonnenbrille zu tragen).
Nach fünf Tagen wird der Zwölfjährige aus dem Krankenhaus entlassen. Doch er kann nicht zur Schule gehen, wirkt apathisch. Howard scheint ein anderer Mensch geworden zu sein: abgestumpft, interesselos, wie betäubt.
Für Walter Freeman aber ist der Eingriff ein voller Erfolg: „Howard wirft seiner Stiefmutter keine gruseligen Blicke mehr zu“, schreibt er etwa drei Wochen nach dem Eingriff in die Krankenakte.
Der Skandal beschleunigt Freemans Abstieg
Ein paar Tage später fährt er im Auto vor. Der Operateur will Howard in San Francisco einem Auditorium von Ärzten vorführen – noch immer führt er unermüdlich seinen Feldzug für die Lobotomie. Doch im Saal wird Empörung laut, als Freeman das Alter des hochgewachsenen Jungen nennt. Er hat ein zwölfjähriges Kind lobotomisiert?
Freeman verliert die Fassung. Er schleudert einen Kasten auf das Podium, gefüllt mit Hunderten von Gruß- und Weihnachtskarten, geschrieben von dankbaren Patienten. „Wie viele Weihnachtskarten bekommen Sie von Ihren Patienten?“, schreit er in den Saal. Dann wird er von der Bühne gebuht.
Der Skandal beschleunigt seinen Abstieg. Dass Freeman weiterhin die Lobotomie an Kindern propagiert, ruiniert seinen Ruf endgültig.
Howard Dullys Leidenszeit beginnt jetzt erst. Zwar spürt er anders als viele andere Patienten Freemans keine Ausfälle, er kann klar sprechen und denken. Doch der Nebel im Kopf bleibt.
Und noch immer ist die Stiefmutter unzufrieden mit seinen Tischmanieren: Sie will ihn aus dem Haus haben. Freeman hilft mit einem Gutachten. Howard kommt zu einer Pflegefamilie, wird dann zu Verwandten abgeschoben.
Obwohl er wieder zur Schule geht, ist seine Stiefmutter entschlossen, ihn in einer Psychiatrie unterzubringen. 1963 wird der 14-Jährige in Handschellen dorthin abtransportiert.
Ein Jahr dauert die Internierung, doch die Ärzte wissen nichts mit dem Jungen anzufangen. Dann kommt Howard auf eine Sonderschule und erneut für zwei Jahre in die Psychiatrie.
1969 findet sich in Freemans Notizen ein Eintrag über Howard Dully: Der Junge mache eine „unbefriedigende“ Entwicklung durch.
Zwei Jahre zuvor hat Walter Freeman die letzte seiner etwa 3500 Lobotomien ausgeführt – nach drei Tagen starb die Patientin an einer Gehirnblutung. Kein Hospital in Los Altos erlaubt ihm nun mehr zu operieren.
Freeman verkauft sein Haus, fährt fortan im Campingbus durch die USA. Wie ein Gespenst auf der Spur seiner Patienten, die er besucht und befragt. Die Datensammlung soll seinen Ruf retten. Doch seine Erfolgsstatistiken sind von zweifelhafter Aussagekraft, stützen sich auf flüchtige Beobachtungen.
Als Walter Freeman am 31. Mai 1972 mit 76 Jahren an Darmkrebs stirbt, praktiziert wohl kaum noch ein Arzt die Lobotomie.
In den Jahrzehnten zuvor, so schätzt ein Historiker, sind rund 100.000 Menschen weltweit lobotomisiert worden, darunter auch Gefängnisinsassen und möglicherweise Dissidenten in der Sowjetunion.
Der Schatten der Lobotomie liegt über der Psychochirurgie
1978 erlässt das US-Gesundheitsministerium strenge Restriktionen gegen jegliche Psychochirurgie, lehnt es jedoch ab, sie gänzlich zu verbieten; in Japan, Australien und Deutschland ist die Lobotomie bereits vorher untersagt worden.
Womöglich steht das Operieren am Gehirn psychisch Kranker heute, im Zeitalter bildgebender Verfahren und moderner Präzisionsinstrumente, vor einer Renaissance. Noch aber sind solche Eingriffe sehr selten und werden von Ärzten nur in Erwägung gezogen, wenn alle anderen Behandlungsmethoden erfolglos bleiben – weil Neurologen und Psychiater wissen, dass das Gehirn ein kompliziertes Netzwerk ist, in dem sich einzelne Funktionen nicht genau lokalisieren lassen.
Und weil der Schatten des Lobotomisten Walter Freeman über der Psychochirurgie liegt.
Howard Dully kommt erst im Frühjahr 1969 endgültig frei, mehr als acht Jahre nach seiner Operation. Er hat keine Ausbildung, lebt zeitweise als Obdachloser und von staatlicher Fürsorge. Er lässt sich treiben. Mit 45 Jahren macht er einen Abschluss als Computer-Fachmann, findet aber keine Stelle.
Heute arbeitet er als Busfahrer und lebt mit seiner Frau in San Jose, Kalifornien. Er wird nie genau herausfinden, was die Schnitte in seinem Gehirn angerichtet haben.
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Dr. Ralf Berhorst, 41, Wissenschaftsjournalist in Berlin, schreibt regelmäßig für GEOkompakt.
m Eispickel – Nobelpreis für Medizin Prof. Moniz
von E2200 @ 2008-07-27 – 18:20:06
Ein Usenet Newsgroup Hinweis auf einen Spiegel-Online Artikel:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/
mensch/0,1518,druck-562025,00.html
Passend dazu die Geschichte der Lobotomie. Prof. Moniz hat 1949 dafür sogar den Nobelpreis für Medizin bekommen, der ihm bis heute nicht aberkannt wurde.
Diese Behandlung wird heute durch stereotaktische Operationen ersetzt, z. B. die Thalamotomie und die Zingulotomie. Insbesondere auch durch die Behandlung mit Psychopharmaka.
FRÜHE NEUROCHIRURGIE
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
Ob Depressionen, Angstzustände oder Alkoholismus – der Neurologe Walter Freeman glaubte um 1950, psychische Erkrankungen durch grobe Schnitte ins Gehirn heilen zu können. Die Methoden des „Hirnschneiders“ waren rabiat, die Folgen für die Patienten fatal.
Der zwölfjährige Howard Dully liegt festgeschnallt auf einem Krankenbett. Vier Elektroschocks hat ihm der Neurologe Walter Freeman versetzt. Nach dem ersten Stromstoß aber kam der Junge schnell wieder zu Bewusstsein. Daraufhin wurde sein Gehirn drei weitere Male unter Spannung gesetzt – mit Erfolg: Howard ist ins Koma gefallen.
Die Schnitte ins Hirn sollen seine Persönlichkeit verändern.
Freeman lässt noch ein Foto machen, dann zieht er beide Stahlnadeln heraus. Nicht einmal zehn Minuten dauert die Operation im Doctors General Hospital in San Jose, Kalifornien. Zehn Minuten, die Howard Dullys Leben beinahe zerstören.
Zwei Monate zuvor, im Oktober 1960, ist Howards Stiefmutter in Freemans Büro erschienen. Etwas stimme nicht mit dem Jungen. Er sei aufsässig, schneide boshafte Grimassen, benehme sich schlecht bei Tisch. Kleinere Diebstähle habe er schon begangen, etwa Kleingeld aus einem Zeitungskasten geklaut.
Sechs Psychiater hat die Stiefmutter bereits aufgesucht. Alle haben sie fortgeschickt mit der Diagnose, Howard sei völlig normal. Doch das ist nicht die Antwort, die seine Stiefmutter hören will.
Freeman will den Jungen heilen – durch Lobotomie
Walter Freeman unterhält sich mit dem Jungen. Howard mag den Psychiater sofort. Der kultivierte, elegante, freundliche Mann hat warme Augen und eine sanfte Stimme. Und er kann zuhören – anders als Howards Eltern. Zu Hause wird der Junge verprügelt, wenn er sich auf dem Heimweg von der Schule verspätet oder unerlaubt eine Banane vom Küchentisch nimmt. Oft ist sein Körper von Blutergüssen übersät. Dabei hat Howard gute Noten und ist ein ausgezeichneter Schachspieler. Aber seine Stiefmutter will ihn loswerden.
Nach mehreren Gesprächen steht Freemans Diagnose fest: Der Junge leide an Schizophrenie. Doch er könne geheilt werden – durch eine „Lobotomie“, eine Operation an den Stirnlappen des Gehirns, die sein trotziges Wesen besänftigen werde. Die Eltern stimmen zu.
Howard ahnt nicht, was mit ihm geschehen soll, als er 16 Tage später ins Krankenhaus kommt. Er weiß nicht, dass Walter Freeman schon Tausende „lobotomisiert“ hat. Dass der 65-Jährige vorhat, die psychiatrische Medizin zu erneuern – mit einer Operation, die manche für einen Meilenstein der Wissenschaft halten und die andere an ein mittelalterliches Folterritual gemahnt.
Walter Freeman, geboren am 14. November 1895 in Philadelphia, stammt aus einer wohlhabenden Familie. Er studiert Sprachen und Geschichte in Yale, eher ziellos. Dann jedoch wendet er sich der Medizin zu. Freeman faszinieren plötzlich Nervenkrankheiten und die Physiologie des menschlichen Gehirns.
Es sind die Jahre, in denen Sigmund Freuds Psychoanalyse in den USA populär wird. Doch die neue Theorie hat starke Widersacher. Sie glauben, dass Erkrankungen der Psyche rein organische Ursachen haben: Fehlfunktionen des Nervenapparats, die durch Gespräche nicht zu kurieren sind. Auch Freeman zählt zu den Anti-Freudianern.
Tatsächlich versagt Freuds Analyse bei schweren Psychosen zumeist, viele Patienten werden in den Heilanstalten nur verwahrt. Deshalb wagen Nervenärzte in Europa und den USA immer rabiatere Kuren. Sie lassen Elektrizität durch die Körper Depressiver laufen, traktieren Schizophrene mit Eisbädern und Duschen, injizieren ihnen Malaria-Erreger, um ein „heilendes“ Fieber zu erzeugen, oder giftige Zyanide, um Gehirn und Nervensystem zu stimulieren.
Nebenwirkungen nimmt Freeman in Kauf
Auch Walter Freeman, der ab 1924 in Washington als Neurologe und Psychiater arbeitet, wendet die Schocktherapien an. Er spritzt Substanzen wie Insulin und Metrazol (ein Analeptikum, dass starke Krampfanfälle auslöst, ähnlich wie bei der Elektroschocktherapie), selbst wenn sich die Patienten danach in so starken Krämpfen winden, dass sie manchmal Knochenbrüche erleiden.
Die Nebenwirkungen nimmt Freeman in Kauf. Denn dass die Psychiatrien in den USA so überfüllt sind, hält er für eine Verschwendung menschlicher Ressourcen. Er will aus Kranken nützliche Mitglieder der Gesellschaft machen – gleich mit welchen Mitteln.
Im Frühjahr 1936 liest Freeman in einem medizinischen Journal von einer radikal neuen Methode: In Portugal operiert der Neurologe Egas Moniz psychisch Kranke direkt am Gehirn, um sie zu kurieren. Er bohrt ihnen zwei Löcher ins Schädeldach und dringt mit einer Kanüle zu den Stirnlappen vor.
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
2. Teil: Empörung über die neue „Psychochirurgie“
Bis dahin ist wenig bekannt über die Funktion der einzelnen Hirnareale. Man weiß aber, dass sich in den Stirnlappen unzählige Nervenfasern verzweigen. Moniz glaubt, dass diese Verbindungswege bei Gemütskranken gleichsam erstarrt sind, dass sich in ihnen fixe Ideen und Wahnvorstellungen verfestigt haben. Man müsse die Nervenbahnen zerstören und das Gehirn zwingen, neue, gesündere Verbindungen zu knüpfen.
Anfangs spritzt Moniz Alkohol in die Stirnlappenregion, um die Nervenfasern abzutöten. Dann vollführt er mit einer Stahlschlinge oder kleinen Schneideklinge kreisrunde Schnitte, um Nervengewebe zu durchtrennen: ein höchst ungenauer und zerstörerischer Eingriff.
Viele Patienten leiden danach an Fieber, Gesichtsstarre, wirken desorientiert und apathisch – das alles, so glaubt Moniz, seien nur vorübergehende Symptome.
Nach 20 Operationen verkündet der Portugiese in einem Aufsatz, 70 Prozent seiner Patienten seien völlig kuriert oder in besserer Verfassung als zuvor und sie hätten weder an Gedächtniskraft noch Intelligenz eingebüßt. Besonders gut wirkten die Schnitte ins Gehirn gegen Depressionen.
Doch die Erhebung ist viel zu hastig publiziert, die langfristigen Folgen sind vollkommen ungewiss. Viele Psychiater reagieren empört auf die neue „Psychochirurgie“. Zumal Moniz für seine Theorien jeden Beweis schuldig bleibt.
Walter Freeman aber ist beeindruckt von den Ergebnissen des Portugiesen – ob dessen Theorie tatsächlich stimmt, ist ihm gleichgültig. Der Mann aus Philadelphia träumt davon, ein Pionier der Psychochirurgie in den USA zu werden. Kurzerhand bestellt er einige der Instrumente, mit denen Moniz operiert. Weil er keine chirurgische Ausbildung hat, bittet Freeman einen Neurochirurgen um Hilfe. Gemeinsam üben sie an Leichen die neue Operationsmethode.
Die Fehlschläge bremsen Freemans Eifer nicht
Im September 1936 fühlen sie sich für den Eingriff gerüstet. Ihre erste Patientin ist eine 63-jährige Hausfrau aus Kansas, die an Schlaflosigkeit, Ängsten und Depressionen leidet. Sie trepanieren in den Schädel zwei Löcher und setzen an zwölf Stellen Schnitte in die Stirnlappen.
Mehrere Tage danach stottert die Patientin und ist unfähig, leserlich zu schreiben. Freeman und sein Kollege gratulieren sich zu einem „brillanten“ Ergebnis: Offenbar sind alle Ängste verschwunden – und sie kann bald wieder ihren eigenen Haushalt führen.
Freeman ist wie euphorisiert. Auch eine zweite Patientin scheint von ihren Depressionen und Halluzinationen befreit zu sein: Die Buchhalterin kann zwei Monate nach der Operation sogar ihre Arbeit wieder aufnehmen.
Aber es gibt auch Rückschläge: Die vierte Patientin leidet nach sechs Wochen erneut an ihren alten Angstzuständen. Und beim fünften Eingriff verletzen die beiden Ärzte Blutgefäße im Gehirn des Operierten. Die Folgen: epileptische Anfälle und Blaseninkontinenz.
Die Fehlschläge bremsen Freemans Eifer nicht. Nach nur sechs Versuchen lädt er einen Reporter ein, Zeuge einer „Lobotomie“ zu sein, wie er die Schnitte in die Stirnlappen (engl. = frontal lobes) nun nennt. In dem Artikel vom November 1936 wird die Operation als eine der wohl „größten chirurgischen Erfindungen“ der Gegenwart gefeiert.
Nur wenige Wochen später der erste Todesfall: Eine 60-Jährige stirbt nach der Operation an einer Gehirnblutung. Der Kunstfehler hat keinerlei Konsequenzen für die beiden Ärzte.
Die meisten Fachkollegen bleiben skeptisch
Dabei erleiden auch andere ihrer Patienten Hirnschäden, müssen zum Teil gefüttert oder lange gepflegt werden. Rosemary Kennedy, die Schwester des späteren US-Präsidenten, hat nach ihrer Lobotomie 1941 den Verstand eines Kindes und verbringt 63 Jahre in geschlossenen Anstalten.
Selbst Freeman hält den Eingriff zu dieser Zeit nach wie vor für ein letztes, da besonders riskantes Mittel. Zugleich aber propagiert er die Lobotomie auf Kongressen im ganzen Land. Die meisten Fachkollegen bleiben skeptisch. Sie halten die Operation für zu zerstörerisch, manche auch für kriminell.
Nur einige andere Neurologen erproben die neue Psychochirurgie. Weniger wohl, als sich Freeman erhofft. Zwischen 1940 und 1944 verzeichnen die Krankenakten in den USA 684 Lobotomien. Allein Walter Freeman hat bis 1943 mehr als 200 Patienten operiert, die Erfolgsquote gibt er mit 63 Prozent an.
Sein missionarischer Eifer ist damit nicht gestillt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die 180 staatlichen Psychiatrien des Landes überfüllt. Hunderttausende, schätzt Freeman, warten in den Anstalten auf Behandlung. Möglichst vielen will er mit einer Lobotomie helfen. Sie soll bald nicht mehr das allerletzte Mittel sein, sondern der erste Schritt zu einer Therapie. Dazu aber muss er den aufwendigen Eingriff vereinfachen.
Freeman erinnert sich, dass es einen leichteren Zugang zum Gehirn gibt, als Löcher in die Schädeldecke zu bohren: durch die Augenhöhle (Orbita), die von den Stirnlappen nur durch eine dünne Knochenwand getrennt ist.
Aber noch fehlt ihm ein geeignetes Werkzeug, die Instrumente des Portugiesen brechen zu leicht. Zu Hause wird er fündig: Ein langer stählerner Pickel, mit dem man Cocktail-Eis zerstoßen kann, scheint genau richtig.
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
3. Teil: Freemans Vision: Psychiater überall im Land sollen Eispickel-Lobotomie praktizieren
Im Januar 1946 erprobt Freeman erstmals die „transorbitale“ Lobotomie. Einer 29-jährigen Frau, die unter manischen Schüben und Depressionen leidet, schiebt er den Eispickel am Augapfel vorbei ins Stirnhirn. Dann schwingt er das Instrument hin und her, um Nervenbahnen zu durchtrennen. Die Patientin scheint schlagartig geheilt; zwar wirkt sie in ihrem ganzen Wesen auffallend gedämpft, kann aber wieder als Krankenschwester arbeiten.
Diesmal hat Freeman nicht in einem Krankenhaus operiert, sondern in seinem Büro – das spart Zeit und Geld. Auch die Betäubungsmethode ist unkonventionell: Freeman versetzt seine Patienten durch Elektroschocks in ein kurzes Koma. Nach dem Aufwachen schickt er sie im Taxi nach Hause. Er operiert ohne sterile Handschuhe, ohne Gesichtsmaske und Arztkittel, alles soll schnell gehen.
Die transorbitale Methode ist lebensgefährlich
Freemans Vision: Künftig sollen Psychiater überall im Land die Eispickel-Lobotomie praktizieren. Die transorbitale Methode dauert ja nur etwa sieben Minuten.
Doch sie ist lebensgefährlich, jederzeit können Blutgefäße im Kopf verletzt werden, kann sich Hirngewebe infizieren. Entsetzt wendet sich der Neurochirurg, mit dem Freeman bis dahin operierte, von ihm ab. Der aber lässt sich nach dem Modell des Eispickels neue Spezialwerkzeuge anfertigen, aus hartem Stahl und mit scharfer Klinge.
enn inzwischen öffnen ihm immer mehr Psychiatrien im Land ihre Tore. Das Personal ist mit den Patienten oft überfordert – und Freemans Versprechungen klingen verlockend. Tatsächlich können viele nach seiner Eispickel-Lobotomie entlassen werden: Weil die Schnitte offenbar alle Emotionen kappen, aus Psychotikern friedfertig-apathische Wesen machen.
Der Operateur hofft, in die Geschichte der Medizin einzugehen – als ein Revolutionär, der alte Menschheitsübel wie Depression und Hysterie ausmerzt. Freeman macht sich möglicherweise sogar Hoffnungen auf den Medizin-Nobelpreis; den jedoch bekommt 1949 Egas Moniz zugesprochen, der Erfinder der herkömmlichen Lobotomie.
Die Ehrung ist wie ein Gütesiegel; sie lässt viele Gegner verstummen. Inzwischen praktizieren Ärzte in vielen Ländern den Eingriff. Wurden bis dahin weltweit etwa 5000 Lobotomien vorgenommen, so sind es in den ersten vier Jahren nach der Preisvergabe allein in den USA 20.000. Ein Drittel davon nach Freemans transorbitaler Methode.
Er operiert nun überall. Das Chirurgenbesteck passt in seine Jackentasche; er hat ein tragbares Elektroschock-Gerät dabei, ein Hämmerchen sowie einen Fotoapparat – mehr benötigt er nicht.
Allein im Sommer 1951 legt er 11.000 Meilen zurück, operiert wie am Fließband. Im Jahr darauf behandelt er in West Virginia 228 Patienten in zwölf Tagen. Nach der Massen-Lobotomie – vier Menschen sterben – können 81 Patienten die Anstalten verlassen; der Bundesstaat spart Zehntausende Dollar an Unterbringungskosten.
Freeman genießt die großen Auftritte. Einmal operiert er vor einem Auditorium von 50 Ärzten und Reportern. Ein anderes Mal sogar mit gebrochenem Arm. Und er ist fahrlässig. Ein Patient stirbt, weil das Lobotomie-Messer abrutscht, als Freeman wie üblich während der Operation ein Foto macht.
Freeman wird zur Berühmtheit
Trotz solcher Pannen erscheinen in populären Magazinen Artikel über den Hirnschneider. Er ist zu Beginn der 1950er Jahre eine Berühmtheit, muss sogar Autogrammkarten verschicken; Anrufer erbitten eine Lobotomie – für sich selbst oder für Verwandte.
Doch dann wird er von einer neuen Erfindung gestoppt: 1954 kommt Thorazine auf den Markt, das erste Neuroleptikum. Eine „chemische Lobotomie“, wie die Herstellerfirma wirbt. Das Medikament unterdrückt Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Das Anstaltspersonal kann damit tobende und schreiende Patienten ruhigstellen.
Schon im ersten Jahr wird das Wundermittel an zwei Millionen Menschen erprobt. Der Effekt ist erstaunlich: Viele Patienten sind so gedämpft, dass man sie nach Hause entlassen kann. Die Zahl der Psychiatrie-Insassen beginnt zu sinken.
Thorazine ist weitaus ungefährlicher als Freemans Psychochirurgie. Die große Zeit des Lobotomisten ist vorbei.
Walter Freeman zieht 1954 nach Los Altos, Kalifornien. Nur ein Krankenhaus in einem Außenbezirk dort erlaubt ihm noch, Lobotomien durchzuführen.
Los Altos ist die Stadt, in der Howard Dully aufwächst. Hier hat sich noch nicht herumgesprochen, dass die Eispickel-Methode umstritten ist. Jemand muss sie Howards Stiefmutter empfohlen haben.
Am 16. Dezember 1960, um 13.30 Uhr, erledigt Freeman den raschen Eingriff.
Hirn-OP mit dem Eispickel
Von Ralf Berhorst
4. Teil: Howard ist abgestumpft, interesselos, wie betäubt – er ist ein anderer Mensch geworden
Am Morgen danach wacht Howard Dully desorientiert auf, wie in einen Nebel gehüllt. Sein Kopf schmerzt, und die Augen sind von Blutergüssen schwarz umrandet (Freeman rät den Operierten stets, eine Sonnenbrille zu tragen).
Nach fünf Tagen wird der Zwölfjährige aus dem Krankenhaus entlassen. Doch er kann nicht zur Schule gehen, wirkt apathisch. Howard scheint ein anderer Mensch geworden zu sein: abgestumpft, interesselos, wie betäubt.
Für Walter Freeman aber ist der Eingriff ein voller Erfolg: „Howard wirft seiner Stiefmutter keine gruseligen Blicke mehr zu“, schreibt er etwa drei Wochen nach dem Eingriff in die Krankenakte.
Der Skandal beschleunigt Freemans Abstieg
Ein paar Tage später fährt er im Auto vor. Der Operateur will Howard in San Francisco einem Auditorium von Ärzten vorführen – noch immer führt er unermüdlich seinen Feldzug für die Lobotomie. Doch im Saal wird Empörung laut, als Freeman das Alter des hochgewachsenen Jungen nennt. Er hat ein zwölfjähriges Kind lobotomisiert?
Freeman verliert die Fassung. Er schleudert einen Kasten auf das Podium, gefüllt mit Hunderten von Gruß- und Weihnachtskarten, geschrieben von dankbaren Patienten. „Wie viele Weihnachtskarten bekommen Sie von Ihren Patienten?“, schreit er in den Saal. Dann wird er von der Bühne gebuht.
Der Skandal beschleunigt seinen Abstieg. Dass Freeman weiterhin die Lobotomie an Kindern propagiert, ruiniert seinen Ruf endgültig.
Howard Dullys Leidenszeit beginnt jetzt erst. Zwar spürt er anders als viele andere Patienten Freemans keine Ausfälle, er kann klar sprechen und denken. Doch der Nebel im Kopf bleibt.
Und noch immer ist die Stiefmutter unzufrieden mit seinen Tischmanieren: Sie will ihn aus dem Haus haben. Freeman hilft mit einem Gutachten. Howard kommt zu einer Pflegefamilie, wird dann zu Verwandten abgeschoben.
Obwohl er wieder zur Schule geht, ist seine Stiefmutter entschlossen, ihn in einer Psychiatrie unterzubringen. 1963 wird der 14-Jährige in Handschellen dorthin abtransportiert.
Ein Jahr dauert die Internierung, doch die Ärzte wissen nichts mit dem Jungen anzufangen. Dann kommt Howard auf eine Sonderschule und erneut für zwei Jahre in die Psychiatrie.
1969 findet sich in Freemans Notizen ein Eintrag über Howard Dully: Der Junge mache eine „unbefriedigende“ Entwicklung durch.
Zwei Jahre zuvor hat Walter Freeman die letzte seiner etwa 3500 Lobotomien ausgeführt – nach drei Tagen starb die Patientin an einer Gehirnblutung. Kein Hospital in Los Altos erlaubt ihm nun mehr zu operieren.
Freeman verkauft sein Haus, fährt fortan im Campingbus durch die USA. Wie ein Gespenst auf der Spur seiner Patienten, die er besucht und befragt. Die Datensammlung soll seinen Ruf retten. Doch seine Erfolgsstatistiken sind von zweifelhafter Aussagekraft, stützen sich auf flüchtige Beobachtungen.
Als Walter Freeman am 31. Mai 1972 mit 76 Jahren an Darmkrebs stirbt, praktiziert wohl kaum noch ein Arzt die Lobotomie.
In den Jahrzehnten zuvor, so schätzt ein Historiker, sind rund 100.000 Menschen weltweit lobotomisiert worden, darunter auch Gefängnisinsassen und möglicherweise Dissidenten in der Sowjetunion.
Der Schatten der Lobotomie liegt über der Psychochirurgie
1978 erlässt das US-Gesundheitsministerium strenge Restriktionen gegen jegliche Psychochirurgie, lehnt es jedoch ab, sie gänzlich zu verbieten; in Japan, Australien und Deutschland ist die Lobotomie bereits vorher untersagt worden.
Womöglich steht das Operieren am Gehirn psychisch Kranker heute, im Zeitalter bildgebender Verfahren und moderner Präzisionsinstrumente, vor einer Renaissance. Noch aber sind solche Eingriffe sehr selten und werden von Ärzten nur in Erwägung gezogen, wenn alle anderen Behandlungsmethoden erfolglos bleiben – weil Neurologen und Psychiater wissen, dass das Gehirn ein kompliziertes Netzwerk ist, in dem sich einzelne Funktionen nicht genau lokalisieren lassen.
Und weil der Schatten des Lobotomisten Walter Freeman über der Psychochirurgie liegt.
Howard Dully kommt erst im Frühjahr 1969 endgültig frei, mehr als acht Jahre nach seiner Operation. Er hat keine Ausbildung, lebt zeitweise als Obdachloser und von staatlicher Fürsorge. Er lässt sich treiben. Mit 45 Jahren macht er einen Abschluss als Computer-Fachmann, findet aber keine Stelle.
Heute arbeitet er als Busfahrer und lebt mit seiner Frau in San Jose, Kalifornien. Er wird nie genau herausfinden, was die Schnitte in seinem Gehirn angerichtet haben.
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Dr. Ralf Berhorst, 41, Wissenschaftsjournalist in Berlin, schreibt regelmäßig für GEOkompakt.